„Nichts ist so gewöhnlich, wie der Wunsch bemerkenswert zu sein.“

- Shakespeare

 

Beep-Beep-Beep.

Verschlafen öffnete ich die Augen und tastete in der Dunkelheit nach meinem laut piepsendem Wecker. Es dauerte ein Weilchen ehe meine Hand das nervende Ding auf meinem dunklen Nachttisch gefunden und mit einem lauten Schlag wieder zum Schweigen gebracht hatte. Aber nach Aufstehen war mir dennoch nicht zu Mute.

Ich fühlte mich wie gerädert und wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich die Vermutung gehegt, in der letzten Nacht von einem Auto überfahren worden zu sein. Oder zumindest von einem Zug. Einem großen, zerstörerischen Killer-Zug…

Mit einem lauten Seufzen knipste ich letztendlich meine kleine Nachttischlampe an und mein gemütliches Zimmer wurde prompt in warmes, helles Licht getaucht.

Mein Blick glitt über meinen hölzernen Schreibtisch, der neben meinem Bett vor dem Fenster stand, weiter über die angrenzenden, vollgepackten Bücherregale und letztendlich zu meinem breiten Schrank, der die breite Wand neben der Tür ganz allein für sich beanspruchte. Mein Zimmer war ziemlich einfach eingerichtet, doch durch einzelne Elemente, wie dem flauschigen, blauen Teppich oder den verschiedenen Bildern an den Wänden, hatte ich meinem Zimmer eine persönliche und gleichzeitig auch gemütliche Note verpasst.

Alles wirkte wie immer und doch wusste ich, dass es nie wieder wie früher sein würde.

Vereinzelte Fetzen Taschentücher, die verteilt vor meinem Bett auf dem Boden lagen, wo ich sie am Abend zuvor achtlos hingeworfen hatte, erregten meine Aufmerksamkeit und riefen mir direkt wieder den Grund für meine schlechte Laune in Erinnerung.

Ich hatte bereits viele schlechte Geburtstage hinter mich bringen müssen, doch mein siebzehnter hatte das Potenzial, es bis ganz nach oben aufs Treppchen zu schaffen. Wieso musste sowas auch immer nur mir passieren?

Als ob es nicht reichen würde, dass mich meine Mitschüler und die fremden Menschen auf der Straße für mein Aussehen bereits verurteilten, reduzierten mich selbst meine Eltern auf reine Äußerlichkeiten und konnten es nicht einmal ertragen, den Geburtstag ihrer einzigen Tochter mit ihr zu verbringen.

Und obendrein musste natürlich noch ein aufgeblasener, egoistischer Dämon in unser Haus eindringen, mir zunächst den Schreck meines Lebens einjagen, anschließend unsere ganze Wohnung in Brand stecken und mir zum Schluss noch verkünden, dass er auch noch Schuld an meiner Hässlichkeit hatte. Und das nur, weil er vorhatte, mich zu seiner Frau zu machen…

Das Ganze klang so absurd, dass ich es beinahe für einen richtig miesen Traum gehalten hätte. Doch es war kein Traum gewesen, wie ich mir am gestrigen Abend mehrmals eingestehen musste. Egal, wie oft ich mich kniff und zwickte, ich wollte einfach nicht aufwachen und die Sturzbäche, die ich daraufhin ausheulte, konnten wahrscheinlich ganze Dürreperioden beenden.

Mein Leben war das reinste Desaster und es schien einfach nicht besser zu werden. Was hatte ich in meinem früheren Leben verbrochen, damit ich so etwas verdiente? War ich insgeheim die schöne Helena gewesen und hatte somit unbeabsichtigt dafür gesorgt, dass es einen der größten Kriege der Geschichte gab, oder was?

Missmutig ließ ich meine Beine aus dem Bett gleiten, ignorierte die herumliegenden Taschentücher vorerst und trottete langsam hinüber ins Bad.

Eine lange, erfrischende Dusche sollte mich hoffentlich wieder etwas entspannen und auf andere Gedanken bringen, denn das hatte ich bitter nötig.

 

Erstaunlicherweise half die warme Dusche besser, als ich zunächst erwartet hatte. Meine müden Knochen schienen langsam aufzuwachen und die innere Taubheit, die mich seit gestern Abend erfasst hatte, fiel allmählich wieder von mir ab. Ich genoss das auf mich niederprasselnde Wasser und nur schwer schaffte ich es, mich nach einer halben Stunde, dem warmen Wasserstrahl wieder zu entziehen. Wieder etwas besser gelaunt, drehte ich das Wasser ab, stieg aus unserer weiß gekachelten Dusche und schnappte mir eines der Handtücher, die auf einem kleinen Regal neben mir lagen. Schnell wickelte ich es mir um den nackten Körper, um mich vor der aufkommenden Kälte zu schützen und trat vor unsere große Spiegelfront.

Neugierig betrachtete ich mich, drehte den Kopf einmal nach links, dann nach rechts und ließ jedoch anschließend geknickt die Schultern hängen. Von der Schönheit, die ich gestern für einen kurzen Moment im Spiegelbild  sehen konnte, war nichts mehr zu sehen. Stattdessen war alles wie immer: Matte, glanzlose Haare, eine gebogene, viel zu große Nase, diverse, übergroße Pickel und fade, fast schon leblos dreinblickende, blassblaue Augen…

Seit ich mich daran erinnern konnte, hatte ich so ausgesehen, doch das war nicht mein wahres Ich. Mein wahres Antlitz war unter der Oberfläche verborgen und nur ein verdammter Fluch verhinderte, dass mein größter Wunsch in Erfüllung gehen konnte. Normalität…

Mit einem weiteren Seufzen wollte ich die deprimierenden Gedanken verdrängen und mich gerade vom Spiegel abwenden, als ich jedoch zwei dunkle Augen im Spiegel sah, die mich musterten.

„KYYYAAAAAH!!!“ Ein lauter Schrei entwich mir und in Panik griff ich nach dem erstbestem, was ich finden konnte, drehte mich herum und schleuderte es dem Eindringling entgegen. Dieser fing die Haarbürste, die ich scheinbar erwischt hatte, jedoch spielendleicht ab und sah mir wortlos mit einer hochgezogenen Augenbraue entgegen.

„Was machst du hier?“, fauchte ich aufgebracht und verstärkte den Griff um mein Handtuch, damit es mir nicht versehentlich nach unten rutschen konnte. Doch anstatt mir zu antworten, ließ dieser unverschämte Dämon einfach seinen Blick forschend über meinen Körper wandern und das Grinsen, welches sich dabei auf seine Züge legte, hätte ich ihm liebend gerne direkt wieder aus dem Gesicht gefegt.

„Du hast keine schlechte Figur, aber ich hätte nichts dagegen, wenn du obenrum etwas mehr zulegen würdest“, meinte er plötzlich und ich spürte, wie mein Kopf sich scheinbar in allen möglichen Rottönen verfärbte, sodass ich gewiss mit jeder Tomate wetteifern konnte.

Vor lauter Scham griff ich erneut nach dem kleinen Regal zu meiner Rechten und umfasste eine Dose mit Haarspray, die ich ihm erneut wütend entgegen schleuderte.

„Geh raus hier“, brüllte ich peinlich berührt und beobachte mit finsterem Blick, wie er jedoch auch das Haarspray einfach nur abfing und es spielerisch in seiner Hand rotieren ließ.

„Warum zierst du dich denn so? Da ist nichts, was ich nicht ohnehin bald sehen werde“, sagte er verdutzt und mir entglitten die Gesichtszüge bei dieser Ankündigung. Ich hatte ihm bereits gesagt, dass ich nicht vorhatte ihn zu heiraten, geschweige denn…

Nein niemals, an sowas wollte ich gar nicht erst denken!

„Ich heirate dich nicht“, platzte es aus mir heraus. „Du bist gemein, egoistisch und überhaupt erst Schuld daran, dass mein Leben so verlaufen ist, wie bisher. Wie kommst du darauf, dass ich jemanden wie dich jemals heiraten würde?“

„Weil du es mir versprochen hast“, erwiderte er und klang dabei so, als wäre diese Erklärung die selbstverständlichste auf der ganzen Welt. Ich konnte jedoch erkennen, dass seine Selbstsicherheit sich allmählich verflüchtigte, denn sein arrogantes Grinsen war aus seinem Gesicht gewichen und hatte einer ausdruckslosen Miene platz gemacht.

„Ich war damals zehn Jahre alt“, erklärte ich ungehalten und warf dabei wild gestikulierend eine Hand in die Luft, die andere jedoch nach wie vor fest um mein Handtuch geklammert. „Ich hab überhaupt keine Erinnerung an irgendein Versprechen, was ich dir angeblich gegeben haben soll. Herrgott, ich erinnere mich nicht einmal daran, dir jemals begegnet zu sein. So ein Versprechen ist doch total unwirksam.“

Aufmerksam beobachtete ich, wie er wütend die Brauen zusammen zog, jedoch schien diese Wut nicht mir zu gelten. Apathisch starrte er an einen unsichtbaren Punkt hinter mir ins Leere und murmelte leise: „Du kannst dich also wirklich nicht erinnern…“

Ich war froh darüber, dass er das langsam einzusehen schien, denn er musste doch begreifen, dass es sinnlos war, auf ein Versprechen zu pochen, von dem man überhaupt keine Ahnung hatte. Die entschlossene Miene, die sich plötzlich auf seinem Gesicht abbildete, verunsicherte mich jedoch augenblicklich wieder und skeptisch sah ich ihm entgegen.

„Dann werde ich eben dafür sorgen, dass du dich wieder erinnerst“, verkündete er und eine unangenehme Gänsehaut überzog mich, da ich wusste, dass das nichts Gutes bedeuten konnte. Ehe ich jedoch zu einer Antwort ansetzen konnte, war er wieder genauso schnell verschwunden, wie er gekommen war und verzweifelt starrte ich auf den Punkt, an dem er eben noch gestanden hatte. Ich konnte nicht genau sagen, warum, jedoch wirkte sein Beschluss auf mich, wie eine offene Kriegserklärung und innerlich bangte ich davor, diesen Krieg vielleicht nicht gewinnen zu können.

 

Kühler Morgenwind schlug mir entgegen, als ich kurze Zeit später langsam die schwere Haustür öffnete und hinaus ins Freie trat. Das Zwitschern der Vögel war fast genauso laut, wie die lauten Geräusche der Autos, die auf der großen Hauptstraße an mir vorbeifuhren. Es hatte durchaus seine Vorteile direkt in der Innenstadt zu wohnen, doch an die nervigen Verkehrsgeräusche würde ich mich wahrscheinlich nie gewöhnen.

Seufzend bog ich meinen Weg Richtung Schule ein und trottete wie jeden Morgen gemütlich den gepflasterten Bürgersteig entlang. Die Schule lag nur einen Katzensprung von meinem zuhause entfernt und es gefiel mir, gerade einmal ein paar Minuten bis zum großen Schulgelände zu brauchen, während meine Mitschüler sich wie Verrückte jeden Morgen in die verschiedenen Busse drängten und sich dort um die letzten Plätze schlugen, als hinge ihr Leben davon ab. Ich war mehr als froh darüber, dass mir wenigstens diese Art der Tortur erspart blieb und atmete einmal tief ein, als bereits das erste, laute Stimmengewirr an meine Ohren drang.

Aus der Ferne konnte ich bereits unser großes, weiß-gestrichenes Schulgebäude erkennen und verzog missmutig den Mund zu einer schmalen Linie. Für außenstehende wirkte das ‚Sweet Amoris‘-Gymnasium wahrscheinlich wie jede andere Schule auch, den mit den hohen, flachen Wänden, der langen, freundlichen Fensterfront und den einladenden Willkommensschildern am Eingang wirkte es schon regelrecht unschuldig. Doch ich wusste es besser, denn nichts war hier unschuldig.

Das Schulgelände war das reinste Schlachtfeld und nur die Stärksten hatten hier das sagen. Die hiesigen Waffen bestanden zwar nicht aus Gewehren und Pistolen, sondern dafür aus demütigenden Worten, verachtenden Blicken und widerlichen Spuckkügelchen, die einen, wann immer man nicht damit rechnete, vernichtend im Genick trafen. Auf diesem Schlachtfeld gab es nur Gewinner und Verlierer und zu welcher Seite man gehörte, bestimmte sich lediglich durch Beliebtheit, Reichtum und Aussehen. Dass ich da nicht gerade die besten Chancen hatte, war leider mehr als offensichtlich.

Lautes Gekicher drang an meine Ohren, als ich eine Mädchengruppe unweit des Eingangs stehen sehen konnte und augenblicklich sackte ich ein paar Zentimeter in mich zusammen. Mit leisen, schnellen Schritten schlich ich mich an den Mädchen vorbei und hoffte inständig, dass sie mich nicht weiter bemerken würden, denn auf einen erneuten, allmorgendlichen Spießrutenlaufen hatte ich im Moment wahrlich keine Lust.

An unserem großen, metallenen Schultor angekommen, verharrte ich kurz und ließ meinen Blick über das übersichtliche Schulgelände schweifen. Zu meiner linken befand sich einmal unsere große, braun-gestrichene Turnhalle und dahinter konnte man das kleine Gewächshaus sehen, hinter welchem sich wiederum der Bereich für die Garten-AG anschloss. Zu meiner rechten erstreckte sich eine Art kleine Parkanlage mit verschiedenen Bänken und anderen Sitzmöglichkeiten, die in den Pausen gerne von den ein oder anderen Schülergruppen in Beschlag genommen wurden. Mein Blick blieb an einer kleinen, dreiköpfigen Mädchengruppe hängen, die sich dort auf eine der Bänke niedergelassen hatten, und ich atmete einmal erleichtert aus, froh darüber, dass sie bereits da waren.

Vorsichtig und in der stillen Hoffnung, nicht sonderlich viel Aufsehen bei den übrigen Schülern zu erregen, ging ich auf die kleine Gruppe zu und wünschte ihnen anschließend einen „Guten Morgen.“

Sie erwiderten zwar leise meinen Gruß, schienen sich ansonsten jedoch weiter auf ihre alte Diskussion zu konzentrieren.

„Also wirklich Viola“, stieß das Mädchen zu meiner rechten mit einer tiefen Frauenstimme aus und blickte kopfschüttelnd der Angesprochenen entgegen. Ihre kinnlangen, schwarzen Haare, die sie zu einem modernen Bob frisiert trug, schwangen dabei mit jeder Bewegung mit und mit ihren stechenden, grünen Augen fixierte sie das Mädchen ihr gegenüber. „Du musst endlich mal lernen, dass du dir sowas nicht immer gefallen lassen kannst. Wehr dich doch endlich mal und schlag zurück.“ Kim war nicht nur ein sehr burschikoses Mädchen, sondern unter anderem auch dafür bekannt, sich nichts gefallen zu lassen. Sie war sportlich, trainiert und durch ihre jahrelange Erfahrung im Kampfsport auch durchaus gefürchtet. Niemand traute sich an sie heran, nur leider galt das nicht für ihre Freundinnen.

Das Mädchen, welches vor uns auf der Bank saß und bei jedem von Kim’s Worten kleiner zu werden schien, strich geistesabwesend über ihre grüne, übergroße Zeichenmappe, die sie sogut wie immer mit sich herum trug. An für sich war Viola ein sehr ruhiges, schüchternes Mädchen und mit ihren ängstlichen, dunklen Augen, den schulterlangen, lila Haaren und dem grauen, einfachen Kleid wirkte sie oftmals wie verloren in dieser großen, weiten Welt. Nur beim Zeichnen taute sie regelrecht auf und das Temperament und die Leidenschaft, die sie in solchen Momenten an den Tag legte, versetzte mich jedes Mal aufs Neue in Staunen. Im Moment jedoch schien sie kurz vor einem Weinkrampf zu stehen und erst nachdem ich sie erneut aufmerksam musterte, erblickte ich die feuchten Dreckflecken, die sie verbissen versuchte von ihrer Mappe zu wischen. Scheinbar hatte einer der Idioten ihre wertvolle Zeichenmappe einfach in einer pampigen Dreckpfütze ertränken wollen und plötzlich konnte ich auch Kim’s Ärger nachvollziehen.

„Morgen kommst du mit mir zum Boxtraining“, beschloss die Schwarzhaarige einfach und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. „Dann zeig ich dir mal ein paar Tricks und das nächste Mal legst du diese Idioten einfach aufs Kreuz.“

„Aber ich kann sowas doch nicht“, wimmerte Viola und anhand ihrer bebenden Unterlippe erkannte ich, dass sie wahrscheinlich kurz davor stand los zu weinen. Iris, die neben ihr saß, schien das wohl ebenfalls zu bemerken und strich ihr tröstlich über den Rücken.

„Kim meint das doch nicht böse“, erklärte sie lächelnd und half Viola dabei einen weiteren Dreckfleck von der dicken Zeichenmappe zu rubbeln. „Sie ist nur besorgt und möchte dir eben auf ihre Weise helfen“, schilderte sie weiter, jedoch stieß Kim in diesem Moment nur ein abfälliges Schnauben aus, als hätte Iris sie gerade beleidigt.

Bevor sie jedoch darauf reagieren konnte, wurde sie von lautem Mädchengeschrei unterbrochen und erschrocken wandten wir uns zum großen Eingangstor um, wo sich eine ganze Mädchengruppe um irgendetwas zu tummeln schien. Ich konnte mir nicht erklären, weshalb diese Hühner nun wieder so laut kreischen mussten, als stände plötzlich irgendeines ihrer komischen Idole vor unserer Schule, aber wahrscheinlich hatte eine von ihnen nur mal wieder ein neues, super teures Accessoire ergattert, mit welchem sie nun lauthals vor ihren Freundinnen angeben musste.

Ich stieß ein genervtes Stöhnen aus, denn ich konnte diese Begeisterung für irgendwelche Kleidungsstücke, Accessoires oder so unnötigem Kram, wie den Gürtel der Woche, oder die Farbe des Monats einfach nicht nachvollziehen. Klamotten waren schließlich nur Klamotten, oder nicht? Ich wollte mich gerade wieder kopfschüttelnd vor der Mädchengruppe abwenden, als sich die Meute jedoch plötzlich einen Spalt breit aufteilte und ich den Grund für ihre Hysterie erkennen konnte. Das durfte doch nicht wahr sein!

Neben dem großen Eingangstor stand weder ein berühmter Star, noch hatte irgendeines der Mädchen wieder mit einer neuen Errungenschaft prahlen müssen, sondern es war…

„Dieser verdammte Dämon!“, entfuhr es mir zischend und warf dabei wütende Blicke in seine Richtung.

„Was hast du gesagt, Fey?“, fragte Iris verwirrt und als ich mich ihr zuwandte, bemerkte ich, wie sie mich besorgt musterte. Ich schüttelte nur schnell mit dem Kopf und krächzte leise: „Gar nichts!“

Was sollte ich ihr auch sonst sagen? Sie war zwar meine Freundin, aber ich war mir durchaus bewusst, dass sie mich für total verrückt halten würde, wenn ich ihr erst einmal gestand, dass es Dämonen durchaus gab und ich durch diverse, merkwürdige Umstände nun einen davon an der Backe hatte, der aus mir unverständlichen Gründen darauf pochte, mich heiraten zu wollen.

Nein, das konnte ich ihr einfach nicht sagen. Ich hatte nicht gerade viele Freunde, aber die, die ich hatte, wollte ich durch dieses ganze Kuddelmuddel nicht auch noch riskieren…

Doch was sollte ich jetzt tun? Ich konnte schließlich schlecht einfach auf ihn zu stapfen und wieder vom Schulgelände zerren,  denn auf sein übliches: ‚Du wirst mich heiraten, weil du es mir einst versprochen hast‘-Gelaber konnte ich vor der ganzen, versammelten Masse durchaus verzichten. Vielleicht hatte ich ja eine Chance, wenn ich mich einfach unauffällig davon schlich. Wenn er mich nicht finden würde, würde er vielleicht einfach wieder gehen, hoffte ich.

Diese Idee gestaltete sich für mich als immer verführerischer, je länger ich darüber nachdachte, doch noch bevor ich mich umdrehen und heimlich davonstehlen konnte, holte mich Kim’s misstrauisches Gemurmel in die Gegenwart zurück: „Kommt der Typ jetzt etwa hierher?“

 

Verdammt, jetzt war Panik angesagt! Ohne groß darüber nachzudenken, wedelte ich herum, nahm die Beine in die Hand und sprintete, so schnell ich konnte, über die grünen Rasenflächen und um das große Schulgebäude herum, damit ich wenigstens vermied, mit diesem Dämon von der ganzen Schülerschaft gesehen zu werden. Als ich laute Protestrufe und wildes Gekreische in meinem Rücken hörte, wusste ich, dass er mir bereits folgte… samt der ganzen Mädchenscharr. Was für dumme Hühner…

Ich überlegte kurz, ob ich mich nicht vielleicht unbemerkt ins Schulgebäude stehlen und in einen der Räume verbarrikadieren sollte, aber es war wahrscheinlich keine gute Idee das Gebäude zu betreten, wenn er mich bereits gesehen hatte. Fremde durften das Schulgelände eigentlich nicht betreten und ich wollte nicht Gefahr laufen einem der Lehrer mit diesem Dämon im Schlepptau während einer rasenden Verfolgungsjagd zu begegnen. Denn eine Erklärung hierfür hätte ich ihnen beim besten Willen nicht geben können.

Ich war gerade so um die erste Ecke gebogen, als er mich bereits eingeholt hatte, meinen Arm ergriff und durch den Ruck, der daraufhin durch meinen Körper ging, als er mich leichter Hand zurückzog, verlor ich das Gleichgewicht und schnipste wie ein Jojo zurück gegen seine steinharte Brust.

„Autsch“, stöhnte ich leise auf und rieb mir über den pochenden Arm, mit dem ich einen Moment zuvor gegen ihn geprallt war. Was hatte dieser Kerl bitte unter seinem Shirt? Stahlplatten?

Mit einem bösen Blick fixierte ich ihn, denn ich konnte mir nicht erklären, weshalb er nun auch noch hier in der Schule auftauchen musste. Er hatte zwar angekündigt, dass er dafür sorgen wolle, dass ich mich wieder an ihn erinnerte, aber darauf konnte ich getrost verzichten. Selbst, wenn er die Wahrheit sprach und wir uns wirklich schon einmal begegnet waren, gab es wahrscheinlich gute Gründe dafür, dass ich ihn hatte vergessen wollen.

Ich wurde jedoch plötzlich aus meinen Gedanken gerissen, als ich eines der Mädchen hasserfüllt fauchen hörte.

„Was will er denn von der Vogelscheuche?“, fragte sie mit pikierter Miene und automatisch richtete ich meine Aufmerksamkeit auf die Mädchengruppe, welche uns bis um die Ecke gefolgt war und nun lauthals tuschelnd die Köpfe zusammen steckte, mit dem Finger auf uns zeigte und mir so böse Blicke zuwarf, dass ich mich fühlte, als hätte ich gerade das Verbrechen des Jahrhunderts begannen.  Ich war es ja gewohnt, dass sie mir hasserfüllte und verachtende Blicke zuwarfen, aber diese Art der Feindseligkeit war neu für mich und ohne es groß verhindern zu können, zuckte ich bekümmert zusammen.

Der Rothaarige schien zu bemerken, dass meine Aufmerksamkeit der Gruppe hinter ihm galt und als er sich ebenfalls kurz umdrehte, verwandelte sich die gesamte Gänseschar plötzlich von neugierig und wütend in lieblich und kokett und ich traute meinen Augen kaum, als sie sogar plötzlich anfingen ihm nervös zuzulächeln und der ein oder anderen entwich sogar ein atemloses Kichern. Was war nur in sie gefahren?

Noch bevor ich jedoch etwas sagen konnte, erstarrten die Mädchen plötzlich, ihre Emotionen verschwanden aus ihren Gesichtern und mit ausdruckslosen Mienen wandten sie sich wortlos ab und ließen uns einfach allein.

„W-Was hast du mit ihnen gemacht?“, fragte ich geschockt und warf ihm einen misstrauischen Blick zu.

„Nun, du scheinst dich in ihrer Gegenwart unwohl zu fühlen, also habe ich sie weggeschickt“, erklärte er achselzuckend und ich zog argwöhnisch die Brauen zusammen. Es war ja nun nicht gerade so, dass mir seine Anwesenheit sonderlich lieber war, aber dazu sagte ich vorerst nichts. Er hatte sie einfach so weggeschickt? Aber wie? Er hatte schließlich überhaupt nichts zu ihnen gesagt. Als ich mich jedoch an ihre ausdruckslosen Gesichter erinnerte, kam mir der schlimme Verdacht, dass er sie wahrscheinlich auf irgendeine Art und Weise kontrolliert haben musste. Ein unangenehmes Gefühl machte sich in mir breit, als ich mir vorstellte, was er mit so einer Fähigkeit mich wahrscheinlich alles tun lassen könnte, ganz gleich, ob ich es wollte oder nicht. Ich schüttelte abwehrend den Kopf um diesen Gedanken fürs erste zu verdrängen, denn ich wollte da einfach nicht weiter drüber nachdenken.

„Was willst du eigentlich hier?“, erkundigte ich mich genervt und hoffte, diese Ablenkung würde mir helfen, die Sache mit der Kontrolle vorübergehend außen vorzulassen. „Das hier ist meine Schule, du kannst nicht immer einfach dann auftauchen, wenn es dir gerade passt“, erklärte ich weiter und warf ihm einen entrüsteten Blick zu.

Seine Miene war jedoch nach wie vor verschlossen und ließ mich nicht erkennen, was er wohl gerade dachte. „Ich sagte doch bereits, dass ich dich dazu bringen werde, dich zu erinnern“, meinte er, als wäre das ja wohl selbsterklärend.

„Ich will mich aber nicht erinnern“, giftete ich leise und tippte ihm mit dem Finger drohend auf die Brust. „Ich werde schon meine Gründe dafür gehabt haben, dass ich mich nicht mehr an dich erinnern wollte und dabei würde ich es auch gerne belassen. Also verschwinde einfach wieder dahin zurück, wo du hergekommen bist und lass mich in Ruhe.“

Seine Miene verfinsterte sich und wütend schlug er meinen Finger von seiner Brust, ehe er zornig zischte: „Du weißt ja nicht, was du da sprichst.“

„Oh doch, das weiß ich“, blaffte ich zurück und straffte die Schultern. „Ich kenne dich erst seit gestern Abend, aber je länger ich dich kenne, desto weniger kann ich dich ausstehen. Du dringst einfach ungefragt in mein Leben ein, spielst dich auf und triffst einfach so Entscheidungen über meinen Kopf hinweg, die ich dabei nicht einmal will. Ich will nicht, dass du mir überall hin folgst und auftauchst, wann immer es dir gerade passt. Ich will nicht, dass du glaubst, du hättest irgendwelche Rechte im Bezug auf mich. Ich will nicht die Frau von einem selbstgefälligen Dämon werden, der andere einfach so mit Flüchen belegt. Ich will dich nicht.“

Ich wusste nicht, woher ich den plötzlichen Mut nahm um ihm derart die Stirn zu bieten, aber es tat gut, das alles einmal loszuwerden. Der Frust, der sich seit gestern Abend in mir aufgestaut hatte, stand kurz davor mich in den Wahnsinn zu treiben und das konnte ich einfach nicht zulassen.

Interessiert bemerkte ich, dass er tatsächlich einen Schritt vor mir zurück wich und mich mit ungläubiger Miene ansah. Er blickte mir so entsetzt entgegen, als hätte ich ihn gerade geohrfeigt, mit einem Bulldozer überfahren oder zumindest mit einer Herde Elefanten überrannt. Ich wusste nicht, ob seine Fassungslosigkeit damit zusammenhing, dass ihm nun endlich bewusst wurde, dass ich ihn wirklich nicht heiraten wollte, oder ob er lediglich erschrocken darüber war, dass ein einfaches, kleines Mädchen jemanden wie ihn tatsächlich ablehnen könnte.

Sein Unglaube hielt jedoch nicht lange an, denn schon nach einem kurzen Augenblick verwandelte sich sein fassungsloser Blick in einen wütenden und ich befürchtete schon, nun die Konsequenzen meines kleinen Ausbruchs erleben zu müssen. Doch mit dem, was dann kam, hatte ich definitiv nicht gerechnet.

„Schön“, fauchte er bissig und sah mich mit einem bitterbösen Blick an, „Wie du willst, dann verschwinde ich.“

Noch ehe ich mich versah, war er auch tatsächlich einfach verschwunden und verwirrt blinzelte ich, bis mein Gehirn begann, das eben Geschehene zu verarbeiten. Er war tatsächlich weg? Ich drehte mich einmal suchend um meine eigene Achse, aus Angst, er würde sich vielleicht nur einen Scherz mit mir erlauben, aber er schien wirklich gegangen zu sein. So einfach sollte es gehen? Es reichte, dass ich ihm ein paar ablehnende Wörter an den Kopf knallte, damit er kapitulierte und den Rückzug antrat?  Ich wusste nicht warum, aber irgendetwas an seinem plötzlichen Rückzug störte mich. Es war irgendwie… zu einfach.

Das laute Klingeln der Schulglocke riss mich jedoch plötzlich aus meinen Gedanken und voller Unmut umfasste ich die lockeren Träger meines Rucksacks. Schnellen Schrittes trottete ich ins Schulgebäude, auf dem Weg zu meinem Klassenraum, wohl wissend, dass das wahrscheinlich erst der Anfang sein würde.

 

Als ich das helle Schulgebäude betrat, waren mittlerweile ebenfalls viele andere Schüler auf dem Weg zu ihren Klassenräumen, doch die eigenartige Atmosphäre, die mich umgab, ließ in mir ein ungutes Gefühl aufsteigen. Ich war es ja gewohnt, dass ich auf dem Weg zu unserem Klassenraum im 2. Stock oftmals mit einigen spöttischen Blicken leben oder mir sogar einige verachtende Sprüche anhören durfte, aber der Großteil ignorierte mich im Regelfall. Heute jedoch schien ich der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein und nicht ein einziger Schüler, an dem ich vorbei ging, warf mir keinen bösen Blick zu.

Ich fragte mich natürlich, was das ganze Theater nun sollte, jedoch wurde mir diese Frage schnell beantwortet, als leises Gekicher und bösartiges Geläster an meine Ohren drang.

„Was die Vogelscheuche wohl von dem süßen Jungen vorhin wollte?“

„Keine Ahnung, wahrscheinlich hält sie sich für wichtig und wollte sich nur aufspielen.“

„Als ob irgendwer an ihr interessiert wäre… Sie weiß wohl nicht, wie sie aussieht?!“

Ich versuchte all die gehässigen Kommentare und das damit verbundene spöttische Gelächter auszublenden, doch das war gar nicht so leicht. Eigentlich war es nichts neues, das sie so über mich sprachen, aber aus mir unerfindlichen Gründen verletzte es mich jedes Mal wieder aufs Neue.

Auch, wenn Castiel vorhin dafür gesorgt hatte, dass die Mädchen den Rückzug antraten und uns alleine ließen, so konnte sich scheinbar jeder einzelne Schüler noch sehr gut an das plötzliche Auftauchen des Rothaarigen erinnern und offensichtlich hatte jeder Einzelne unsere Verfolgungsjagd über den halben Schulhof beobachten können. Innerlich schalte ich mich nun für diese Aktion, denn nur um nicht vor meinen Freundinnen mit der Wahrheit rauszurücken zu müssen, hatte ich mich nun indirekt zum Gesprächsthema der ganzen Schule manövriert. Klasse Aktion, Fey!

Erstaunlicherweise schaffte ich es in den zweiten Stock, ohne weiter von irgendwelchen Zwischenfällen aufgehalten zu werden, denn scheinbar genügte es den Anderen fürs erste, wenn sie mich mit bösen Blicken dafür strafen konnten, mich so ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestürzt zu haben.

In meinem Klassenraum angekommen, stellte ich überrascht fest, dass ansonsten noch kaum jemand da zu sein schien und mit einem leisen Schnauben ließ ich mich auf meinem Platz in der Fensterreihe plumpsen. Ich mochte diesen Platz, er war einfach perfekt. Ich saß zum Glück weit genug vom Lehrertisch entfernt, sodass ich nicht sofort in den strengen Blickfang unserer Lehrerin geriet, aber ich saß auch nicht so weit hinten, dass ich vom vermittelten Stoff nichts mehr mitbekommen würde. Am wichtigsten war mir jedoch die Nähe zum Fenster, denn somit konnte ich rausgucken, wann immer ich wollte und es fiel mir leichter, den Rest der Klasse zu ignorieren, während diese wie immer ihre Show abzog.

Ich konnte die Ruhe des Raumes jedoch nicht allzu lange genießen, denn schon kurz nach meinem Eintreten folgte auch nach und nach der Rest meiner Klasse.

„Hey! Hey, du!“, fauchte plötzlich eine weibliche Stimme ganz in meiner Nähe und langsam drehte ich den Kopf in ihre Richtung. Neben mir stand Amelie Ashton, Tochter aus reichem Hause, selbsternannte Schulprinzessin und gut geübte Sklaventreiberin. Sie war ein großgewachsenes, bildhübsches Mädchen mit langen, schwarzen Haaren und großen, haselnussbraunen Augen. Ihre rot geschminkten Lippen glänzten noch leicht vom offensichtlich frisch aufgetragenen Lipgloss und sie war wie immer in den neusten Designerfummel gekleidet. Doch so schön wie sie äußerlich war, so gehässig und boshaft strahlte ihr Innerstes und im Moment bedachte sie mich mit einem derart herablassenden Blick, von dem sie wusste, dass dieser alleine ausreichen würde, um mich auf meinen Platz zu verweisen.

„Sag schon, dieser rothaarige, gutaussehende Junge von heute früh… Wie heißt er und woher kennst du ihn?“, fragte sie ungehalten und schürzte dabei unzufrieden mit den Lippen, als würde schon alleine die Tatsache, sich mit mir zu unterhalten, sie abgrundtief stören.

„Bist du taub, Vogelscheuche? Sie hat dir eine Frage gestellt“, schaltete sich nun auch eine andere, weibliche Stimme mit ein und ich ließ den Blick über die kleine Mädchengruppe schweifen, die sich hinter Amelie aufgereiht hatte und eindeutig ihren Hofstaat darstellte. Das Mädchen zu ihrer linken hörte auf den Namen Denise und im Vergleich zu Amelie war sie sogar noch einen Tick hübscher. Ihre langen, dunkelbraunen Haare fielen ihr in weichen Wellen über die Schultern und ihre grünen Augen glänzten im Licht der hellen Deckenlampen. Doch trotz ihres Aussehens war sie nur die Nummer 2, denn im Vergleich zu ihrer besten Freundin war sie so dumm wie Brot und taugte allenfalls zum einfachen nachplappern, oder aber um einfache Befehle auszuführen.

Es gefiel mir gar nicht, nun ausgerechnet ins Visier der Schulprinzessin und ihrem Gefolge gerutscht zu sein, denn ich wusste, sollte Amelie meine Antwort nicht gefallen, würde ich die nächste Zeit wahrscheinlich eine weitaus schlimmere Tortur ertragen müssen, als bisher schon.

Ich versuchte den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken und überlegte fieberhaft, wie ich ihr ihre Frage wohl erklären sollte. Die Wahrheit konnte ich ihr ebenso wenig sagen, wie dem Rest der Schule, denn auch, wenn sie mich bereits jetzt schon alle als den Freak des Jahrhunderts abgestempelt hatten, musste ich sie in dieser Auffassung ja nicht unbedingt unterstützen.

Bevor mir jedoch eine Antwort einfallen wollte, die ich ihnen hätte auftischen können, bemerkte ich, dass sie alle ungläubig einen Punkt hinter mir fixierten und ich zuckte automatisch angsterfüllt zusammen. War das wieder irgendeine Art primitiver Streich? Mit zusammengekniffenen Augen rechnete ich jeden Moment bereits mit einer Art Schlag, einem erneuten Angriff voller Spuckkügelchen oder was auch immer sie sich mal wieder für mich ausgedacht hatten, jedoch blieb der erwartete Streich aus.

Ich hörte leise Schritte, die an mir vorbei gingen und als ich langsam die Augen wieder öffnete, erstarrte ich mitten in meiner Bewegung. Jemand hatte sich auf den Platz neben mir gesetzt und seine dunkelroten Haare schwangen leicht hin und her, als er sich auf seinem Stuhl zurücklehnte und mich mit einem unnahbaren Blick bedachte.

Das konnte doch nicht wahr sein! Ich hatte ja geahnt, dass es nicht so einfach sein würde, ihn loszuwerden, doch dass er mir erst versprach zu verschwinden und anschließend nicht einmal fünf Minuten später wieder auftauchte, als wäre nichts gewesen, machte mich ungemein wütend.

„Hey, Alter, das ist aber mein Platz“, protestierte einer der Jungs plötzlich und mein Blick fiel auf einen mittelgroßen Jungen mit kurzen, braunen Haaren und ebenso braunen Augen. Sein Name war Liam und normalerweise musste er auf dem Platz neben mir sitzen, der ihm zu Beginn des Schuljahres von Mrs. Delanay zugeteilt wurde.

„Das WAR dein Platz“, stellte Castiel richtig und erwiderte seinen verwunderten Blick mit einer solchen Kälte, dass Liam schnell einige Schritte zurück setzte und beschwichtigend die Hände hob.

„Hey, ok, ok, alles cool“, murmelte er leise und verzog sich mit seinen Freunden in die hinteren Sitzreihen.

„Was-“, setzte ich an und wollte ihn gerade erneut anfauchen, was er hier wollte, jedoch wurde ich vom schrillen Aufschrei Amelie’s unterbrochen. 

„KYAAAAH, DU BIST ES WIRKLICH!!!“, schrie sie und kam auf uns zu gestürmt. Ich erkannte die Gefahr früh genug und rettete mich mit einem Hopser aus der Gefahrenzone. Und zwar keine Sekunde zu früh. Im nächsten Moment warf sich Amelie mit Karacho an Castiel‘s Hals, sodass dieser sich nicht mehr auf dem Stuhl halten konnte und beide mit lautem Poltern auf den harten Boden krachten. Schallendes Gelächter brach in der Klasse aus und auch ich konnte mir den leichten Anflug eines Lächelns nicht verkneifen, als ich mich etwas nach vorne lehnte, um zwischen die Stühle zu schauen. Castiel lag mit einem undefinierbar entsetzten Blick auf dem Boden und versuchte die schwarzhaarige Schönheit von sich zu schieben, während diese sich weiterhin leise kichernd an ihn klammerte. Amelie’s Verhalten schien ihn so aus der Fassung zu bringen, dass er scheinbar nicht einmal auf die Idee kam, seine komischen Fähigkeiten erneut einzusetzen und seine gequälte Verfassung erfüllte mich mit großer Genugtuung. Ja, das hatte er verdient…

 

KLACK

Das leise Geräusch schalte durch den Raum und es war, als würde man einen unsichtbaren Schalter umlegen. Kaum war das Geräusch zu uns vorgedrungen, erstarb das laute Gelächter augenblicklich und jeder hechtete, so schnell er konnte, auf seinen Platz. Amelie hingegen drückte Castiel doch tatsächlich noch einen Kuss auf die Wange, zwinkerte ihm leicht zu und stöckelte anschließend zu ihrem Platz in eine der hinteren Reihen.

Castiel lag nach wie vor völlig baff auf dem Rücken und schien gar nichts mehr zu begreifen. Je länger er jedoch dort lag und scheinbar über das eben Geschehene nachdachte, desto wütender schien er zu werden und ich befürchtete, dass das kein gutes Ende für Amelie nehmen könnte. Laut seufzend ließ ich mich wieder auf meinem Platz nieder, ergriff widerstrebend seinen Arm und zog ihn wieder auf die Beine.

„Verschwinde jetzt, die Lehrerin kommt“, flüsterte ich, jedoch musste ich entsetzt mit ansehen, wie er sich mit finsterer Miene erneut auf dem Platz neben mir fallen ließ. Er hatte doch nicht etwa vor zu bleiben!?

Plötzlich flog die Tür zum Klassenzimmer auf und eine großgewachsene Frau mit kurzen, braunen Haaren trat ins Klassenzimmer und studierte ein Blatt, das sie gerade in den Händen hielt. Mrs. Delanay war eine ständig missgelaunte, strenge Lehrerin, die es schaffte, sich innerhalb von Sekunden von Null auf Hundert in Rage zu reden. Niemand wollte sich gerne mit ihr anlegen und selbst die größten Chaoten mutierten in ihrem Unterricht zu kleinen, lieben Schäfchen.

„Guten Morgen, wir haben einen neuen Schüler“, bellte sie in den Raum, ohne jedoch einmal von ihrem Blatt aufzusehen. Ein neuer Schüler? Das konnte er doch nicht wirklich vorhaben, schoss es mir durch den Kopf und ich warf ihm einen pikierten Blick zu. Mrs. Delanay war mittlerweile am Lehrerpult angekommen, ließ den Blick durch die Klasse schweifen und verharrte anschließend bei Castiel.

„DU!“, sagte sie. „Aufstehen und vorstellen!“ Castiel zog jedoch nur eine Augenbraue hoch und blickte ihr desinteressiert entgegen.

„Warum sollte ich?“

Die Totenstille, die sich daraufhin im Raum ausbreitete, wirkte beängstigend und man hätte wahrscheinlich sogar eine Stecknadel fallen gehört. Alle Augenpaare wanderten starr zwischen Mrs. Delanay und Castiel hin und her und die Mehrheit versuchte scheinbar zu begreifen, dass sich gerade wirklich jemand gewagt hatte, dieser Lehrerin zu widersprechen.

Ihre Augen schienen schon nahezu Funken zu sprühen, während sie Castiel nach wie vor mit ihren bösen Blicken zu erdolchen versuchte. Dieser saß jedoch einfach mit ausdrucksloser Miene und verschränkten Armen auf seinen Platz, als wüsste er gar nicht, wo er sich da soeben hineinmanövriert hatte. Plötzlich stieß er jedoch ein leidliches Stöhnen aus, verdrehte dabei genervt die Augen und erhob sich gelangweilt. Er wirkte in diesem Moment irgendwie wie ein kleines, bockiges Kind, dass von seiner sturen Mutter losgeschickt wurde, um sich bei einem unliebsamen Spielkameraden zu entschuldigen, den er einfach zum Weinen gebracht hatte.

„Also gut“, sagte er dann und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. „Mein Name ist Castiel und wie ihr soeben schon gehört habt, bin ich ein neuer Schüler. Mehr müsst ihr nicht wissen“, erklärte er schlicht und setzte sich anschließend einfach wieder hin. Ein enttäuschtes Gemurmel ging durch die Klasse und ich starrte ihn mit offenem Mund an. War das sein ernst? Das verstand er unter einer Vorstellung? Zweifelnd starrte ich ihn an, jedoch entging mir auch nicht sein argwöhnischer Blick, mit dem er seine Umgebung betrachtete und ich verstand, dass er scheinbar darum bangte, dass sich jeden Moment die Nächste auf ihn stürzen könnte. Ich konnte mir ein Grinsen noch gerade so verkneifen, als ich heimlich in mich hineinfeixte, jedoch schien er es zu bemerken und warf mir einen bitterbösen Blick zu. Mrs. Delanay, die seine spärliche Vorstellung als solche scheinbar akzeptierte, hatte sich in der Zwischenzeit bereits der Tafel zugewandt und damit begonnen wie eine Verrückte alle möglichen chemischen Formeln auf den schwarzen Untergrund zu kritzeln, sodass ich beschloss, mich vorerst auf den Unterricht zu konzentrieren.

Um ihn kümmern konnte ich mich später schließlich immer noch.

 

Laut fluchend wrang ich mir die tropfenden Haare aus und mein Spiegelbild, dass mich in diesem Moment hämisch aus dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken entgegenzulachen schien, hätte ich am liebsten in tausend Scherben zerschlagen. Hatte ich nicht geglaubt, der gestrige Tag ginge an Schrecklichkeit kaum noch zu übertreffen? Gott, wie naiv war ich eigentlich?

„Castiel…“, ich stieß diesen Namen aus, wie einen Fluch, den so langsam glaubte ich, dass nicht mein Aussehen der eigentliche Fluch war, sondern er selbst! Ich stand kurz davor dem Wahnsinn zu verfallen und das alles nur, weil sich dieser unverschämte Dämon immer mehr in mein Leben drängte und einfach nicht verstand, dass ich doch nur meine Ruhe wollte… War das denn wirklich zu viel verlangt?

Nach dem Chemieunterricht bei Mrs. Delanay war nahezu eine wilde Treibjagd darüber ausgebrochen, welches der Mädels ihm nun wohl die Schule zeigen dürfte und dank Castiel’s Zuspruch ging ich unglücklicherweise als Siegerin daraus hervor, obwohl ich nicht einmal daran interessiert war. Den ganzen Tag über wich er mir nicht ein einziges Mal von der Seite, was nicht nur meinen Unmut, sondern auch den Hass der übrigen Mädels auf mich, weiter ansteigen ließ.

Ich konnte nicht verstehen, wie diese Mädchen auf mich sauer sein konnten, wenn doch eigentlich er derjenige war, der sich wie ein Kleinkind an mir festklammerte.

Offensichtlich ging er davon aus, je mehr Zeit er mit mir verbrachte, desto schneller würde meine Erinnerung an ihn zurückkehren, allerdings dachte er in der Hinsicht mächtig einseitig. Wie sollte ich mich auch an ihn erinnern, wenn er mich zwar durch seine körperliche Anwesenheit kurz vor einen Nervenzusammenbruch brachte, dabei jedoch so gut wie kein einziges Wort mit mir wechselte? Auf meine Nachfragen oder gar meine Bitten hin, dass er sich doch einfach von meiner Schule fernhalten sollte, reagierte er nicht und auch sonst schien er nicht einmal an einer ernsthaften Kommunikation interessiert zu sein. Was also erhoffte er sich hiervon? Hoffte er etwa insgeheim darauf, dass ich so schnell wie möglich dem Wahnsinn verfiel und es nicht mehr lange dauern würde, bis die Männer mit den Zwangsjacken hier auftauchen und mich mitnehmen würden? Sollte das sein Ziel sein, würde es gewiss nicht mehr lange dauern, bis er es erreicht hatte…

Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass ich nun gut mit der doppelten Menge an Feindseligkeiten leben musste, konnte ich dieses Mal nicht einmal mehr auf den Rückhalt meiner Freundinnen bauen. Ich wollte sie einfach nicht unnötig mit in die ganze Sache hineinziehen und ebenfalls den Anfeindungen der Anderen, geschweige denn der Anwesenheit eines gewissen Dämons aussetzen. Sowohl Iris, als auch Kim und Viola waren mir in den vergangenen Jahren sehr wichtig geworden, denn im Vergleich zu meinen anderen Mitschülern ließen diese sich nicht von meinem Äußeren blenden. Sie hatten sich mir gegenüber bisher immer freundlich und natürlich verhalten und wenn ich ehrlich war, musste ich mir selbst eingestehen, dass ich sie im Moment schon ziemlich vermisste. Iris würde mich wahrscheinlich sofort wieder versuchen mit ihren aufbauenden Worten zu trösten und Kim hätte sicherlich laut verkündet, sich sowohl Castiel, als auch die ganze Mädchenschar vorknöpfen zu wollen, um mir auf diesem Weg ihren Beistand zu zeigen. Und selbst Viola wäre für mich dagewesen, auch, wenn sie meistens nicht viel redete.  

Ich wusste, dass sie drei all das für mich getan hätten und umso wichtiger war es mir, dass ich sie bei der ganzen Sache außen vor ließ. Ich wollte nicht, dass auch sie plötzlich ins Visier der Anderen rutschten, nur weil sie sich mit einem Freak wie mir abgaben, der unweigerlich ein Talent dafür hatte, sich von einem Mist in den nächsten zu reiten.

Ich seufzte leise, als ich mich aus meiner dünnen, schwarzen Strickjacke, die ich mir heute Morgen übergestreift hatte, schälte und diese ebenfalls auswrang. Eigentlich hatte ich mich auf die Damentoilette zurückgezogen, damit ich wenigstens für ein paar Minuten meine Ruhe genießen konnte, jedoch war mir nicht einmal das vergönnt.

Denn kurz nachdem ich in eine der Kabinen gegangen und die Tür hinter mir geschlossen hatte, stürzte plötzlich eine ganze Wagenladung Wasser auf mich nieder und umgehend war es mit meiner Erholung wieder vorbei. Nun stand ich hier, bis auf die Knochen durchnässt und hatte nicht einmal ein paar Wechselklamotten dabei. Womit hatte ich das eigentlich verdient?

Schweigend betrachtete ich mein nasses Spiegelbild und musste mir leidlich eingestehen, dass ich so wahrscheinlich in den Unterricht zurück musste. Mir standen noch zwei weitere Stunden bevor und da ich nicht einmal meine Sportklamotten mithatte, blieb mir wohl nichts anderes übrig, als in diesem Aufzug in den Klassenraum zurückzukehren.

Geknickt wandte ich mich der Tür zu und verließ das Badezimmer wieder, wohlwissend eine lange, feuchte Tropfspur hinter mir herzuziehen.

 

„Hey, ist das nicht die Vogelscheuche?“, hörte ich plötzlich eine männliche Stimme hinter mir fragen und erschrocken zuckte ich zusammen.

„Sie weiß wohl nicht, dass man in der Schule kein Bad nimmt“, meinte eine andere Stimme höhnend und ich zog misstrauisch die Brauen zusammen. Waren sie es etwa gewesen, die mich mit dem Wasser übergossen hatten? Ich beschloss jedoch, sie einfach zu ignorieren und beschleunigte meine Schritte, um schnellstmöglich zurück ins Klassenzimmer zu kommen. Sollten sie es wirklich gewesen sein, würde es ihnen nur Genugtuung geben, wenn ich ihnen zeigte, dass mich ihre Worte trafen.

Plötzlich ergriff jedoch eine starke Hand meinen Arm und noch ehe ich es begreifen konnte, wurde ich auch schon zurückgezogen und hart gegen eine Wand gepresst.

„Wo willst du denn so eilig hin?“ Ängstlich blickte ich zu dem Jungen auf, der mich zurückgezogen hatte und blickte dabei in strahlend blaue Augen. Sein Mund war zu einem hinterlistigen Grinsen verzogen und einige seiner längeren, schwarzen Stirnfransen hingen ihm wie ein Schleier vor dem Gesicht. Ich erkannte ihn direkt auf Anhieb, sein Name war Adrian Moreau und er war nicht nur der beliebteste Junge an unserer Schule, sondern unter anderem auch hin-und wieder der feste Freund unserer Schulprinzessin Amelie. Er war ein Jahrgang über uns, weshalb ich ihn eigentlich, vom Schulhof mal abgesehen, bisher nie oft zu Gesicht bekommen hatte, jedoch verspürte ich keinerlei Zweifel daran, dass es seine „Freundin“ gewesen war, die ihn auf mich angesetzt hatte.

„Zurück in die Klasse“, erklärte ich schließlich leise und verfluchte mich selbst dafür, wie eingeschüchtert ich doch gerade klang. Das hämische Lachen, dass die Jungs plötzlich ausstießen, verriet mir, dass sie meine Angst durchaus bemerkt hatten und scheinbar schien es sie köstlich zu amüsieren.

„Was solltest du denn in der Klasse?“, fragte einer der Jungs im Hintergrund spöttisch und begann schallend zu lachen, als er anfügte: „Nass, wie du bist, passt du besser in den Pool hinter der Schule, meinst du nicht auch?“

Ein böses Gefühl erschlich mich, als ich allmählich begriff, dass sie mich wohl nicht so einfach gehen lassen würden. Sie hatten doch nicht wirklich vor, mich in den Pool zu werfen, oder doch?

Ängstlich kniff ich die Augen zusammen, als Adrian grob meinen Arm umfasste, jedoch rührte er sich anschließend nicht weiter. War das die allbekannte Ruhe vor dem Sturm?

„Lass sie los“, forderte plötzlich eine männliche Stimme im ruhigen Tonfall und als ich die Augen wieder öffnete, sah ich Castiel neben mir stehen, der die Jungs mit einem eiskalten Blick bedachte. Der Schwarzhaarige ließ mich daraufhin tatsächlich los und wich sogar einen Schritt zurück, jedoch ließ sein trotziger Blick, mit dem er Castiel bedachte, erahnen, dass er noch nicht aufgeben würde.

„Misch dich hier gefälligst nicht ein. Du bist neu hier und weißt scheinbar nicht, wie es hier läuft.  Ich werde da ausnahmsweise nochmal drüber hinwegsehen“, sagte er selbstgefällig, als erwartete er dafür allen Ernstes noch Castiels Dankbarkeit. „Aber du hast dich hier nicht einzumischen. Sieh sie dir an, sie ist doch wie der Tod auf Beinen. Wen interessiert schon, was mit ihr passiert.“

„Du oberflächlicher, arroganter Mistkerl“, zischte Castiel zornig und seine grauen Augen waren dabei zu Schlitzen verengt, mit denen er Adrian und seine Kumpanen böse fixierte. Diese ließen sich davon jedoch nicht weiter beeindrucken, sondern verlagerten lediglich ihr Gewicht und blickten dem Rothaarigen herausfordernd entgegen. Panisch blickte ich zwischen den Jungs hin und her und begriff so langsam, was hier gerade vor sich ging. Castiel war neu an unserer Schule und die Anderen fühlten sich scheinbar in ihrer Rangfolge bedroht. Würden sie jetzt vor ihm zurückschrecken, bedeutete das, dass er gewonnen hätte und das hatten sie scheinbar nicht vor zuzulassen. Doch waren sie wirklich nur deswegen bereit, mit dem Rothaarigen eine Schlägerei anzufangen? Um Castiel machte ich mir dabei weniger Sorgen. Ich wusste, er war ein Dämon und konnte es dabei wahrscheinlich leichter Hand mit drei pubertären Jungs aufnehmen. Nur warum behagte mir der Gedanke überhaupt nicht? Diese Jungs hatten mich vor ein paar Minuten erst mit einem Eimer Wasser übergossen, mich mittlerweile mehrfach beleidigt, damit verletzt und sogar kundgetan mich in den großen Pool hinter der Schule werfen zu wollen. Müsste ich nicht also vor Verzückung jubeln und Castiel anfeuern, wie ein quietschfröhlicher Cheerleader, bei dem Gedanken daran, dass er sie die Abreibung erfahren ließ, die sie wahrscheinlich verdienten? Warum aber tat ich es nicht?

Ich hätte frustriert aufstöhnen können, denn auch, wenn diese Kerle sich wahrscheinlich niemals ändern und mich auch weiterhin herumtraktieren und beschimpfen würden, so konnte ich einfach nicht zulassen, dass Castiel sie meinetwegen angriff. Nicht wegen mir…

 

Noch bevor ich es überhaupt begreifen konnte, hatte ich bereits Castiel’s Arm ergriffen, wedelte herum und rannte mit ihm den Flur entlang. Die Gänge waren mittlerweile wie leergefegt, da alle übrigen Schüler offensichtlich bereits in die Klassenräume zurückgekehrt waren. Das machte es natürlich schwieriger sich zu verstecken, also konnte ich nur hoffen, dass wir schneller waren, als die Jungs hinter uns. Ich bog um mehrere Ecken, sprintete die langen Gänge entlang und hielt letzten Endes auf das große Treppenhaus zu. Castiel war dicht hinter mir, doch ansonsten konnte ich keine weiteren Schritte hören. Hatten wir sie bereits abgehängt? Um trotz allem kein Risiko einzugehen, zog ich ihn weiter hinter mich her, die Treppen hinauf bis ganz nach oben und mit einem schwungvollen Ruck öffnete ich die schwere Tür, die uns auf das lange Flachdach der Schule führte. Schülern war es eigentlich verboten hierauf zu kommen, doch das interessierte mich im Moment herzlich wenig. Schwer atmend stützte ich mich mit den Armen auf meinen Knien ab, denn ich musste zugeben, was Sport anbelangte, war ich nicht gerade die Beste. Als ich aus dem Augenwinkel einen Blick auf Castiel warf, bemerkte ich jedoch, dass er locker die Arme vor der Brust verschränkt hatte und nicht mal ansatzweise erschöpft zu sein schien. Dabei waren wir doch gerade durch die halbe Schule gerannt!

Er betrachtete mich mit einem argwöhnischen Blick und fragte letztendlich: „Wieso hast du das gemacht?“

„Ich wollte nicht, dass etwas passiert“, erklärte ich achselzuckend und schnappte dabei laut nach Luft. Vielleicht würde etwas Ausdauertraining mit zukünftig ja ganz gut tun.

„Wieso? Ich wäre mit den dreien schon locker fertig geworden. Die sind doch keine Herausforderung für mich.“ Bei dem arroganten Tonfall in seiner Stimme verdrehte ich nur genervt die Augen und richtete mich mit einem Seufzen wieder auf, als sich mein Kreislauf langsam wieder zu beruhigen schien.

„Ich weiß“, gab ich leise zu. „Aber ihnen wäre etwas passiert.“

Ich ließ meinen Blick über das großräumige Flachdach schweifen, denn in meiner ganzen Schulzeit war ich noch kein einziges Mal hier oben gewesen. Der Ausblick war atemberaubend schön und bot einem eine freie Sicht über die ganze Stadt.

„Wie bitte?“, fragte er wütend und ich wusste bereits, dass er mich mit seinen erbosten Blicken zu erdolchen versuchte, ohne ihn auch nur anzusehen. „Hast du nicht gehört, wie diese Typen über dich reden?“

Blöde Frage… Wie hätte ich das auch überhören sollen? Doch solche Worte waren für mich einfach nichts Neues mehr.

„Was hätte es denn geändert?“, konterte ich und zupfte an dem nassen Saum meines Shirts. „Willst du etwa von nun an jeden verprügeln, der so über mich spricht, wie sie es gerade getan haben? Wenn es so ist, dann kannst du dich wahrscheinlich mit der ganzen Welt anlegen… Es wird immer irgendwelche Idioten geben, die lediglich das sehen, was du aus mir gemacht hast. Eine hässliche Hülle… Und dementsprechend behandeln sie mich auch.“ Der Schmerz, der wieder in mir aufkeimte, war mir nur allzu gut bekannt, schließlich ertrug ich ihn tagtäglich. Dieser Schmerz, all die verachtenden Worte und Blicke, die Feindseligkeit der Menschen in meinem Umfeld… all das gehörte mittlerweile zu mir, wie die Sonne zum Tag.

„Menschen sind sehr simple, musst du wissen. Sie reagieren nur auf das, was sie wahrnehmen. Das Schöne, das begehren sie, das wollen sie erobern und besitzen. Das Hässliche jedoch… Das lehnen sie ab. Es interessiert sie nicht, was sich unter der Oberfläche befindet und nur die Wenigsten machen sich die Mühe auch mal einen Blick hinter die Fassade zu werfen. So ist es schon immer gewesen und so wird es wahrscheinlich auch immer sein. Menschen sind dumm…“

Traurig ließ ich den Blick gen Himmel schweifen. Es war ein schöner Tag, die Sonne schien und nur wenige Wolken bildeten sich vor dem tiefen Blau des Himmels ab.  Ich selbst stand jedoch hier, bis auf die Knochen durchnässt, als wäre ich soeben durch einen ganzen Monsun gelaufen und fühlte mich schrecklich. Warum waren Menschen eigentlich so einfach gestrickt?

„Du kannst mich nicht beschützen“, flüsterte ich schließlich leise und schloss dabei die Augen. „Es wird niemals aufhören, ganz gleich, wie oft du mich versuchst vor den Anderen in Schutz zu nehmen. Es werden immer neue Leute kommen, mit den gleichen Vorurteilen, die sich wieder nur auf Äußerlichkeiten beziehen und erneut so über mich denken werden, wie es die anderen da unten machen. Aber weißt du… eigentlich… eigentlich ist mir das schon fast egal“, meine Stimme zitterte leicht und langsam öffnete ich meine Augen wieder, ehe ich zaghaft die Arme vor der Brust verschränkte. Meine Augen hatten mittlerweile zu brennen begonnen, als sich allmählich die Tränen darin ansammelten, doch ich wollte jetzt nicht aufhören. In all den Jahren hatte sich so viel Schmerz und so viel Trauer in mir aufgestaut, dass er mir gut tat, dem Ganzen nun endlich mal Luft zu lassen und über meine Gefühle zu sprechen.

„In all den Jahren… da dachte ich immer, wenn ich nur schön wäre… Wenn ich schön wäre, dann müsste es mir besser gehen. Ich habe mir das Ganze so sehr eingeredet, bis ich irgendwann so versessen von dem Gedanken war, dass ich alles versucht habe um mein Aussehen irgendwie zu verändern. Ich habe unzählige Male versucht mich zu schminken, habe mir die Haare gefärbt und zahllose Kosmetika ausprobiert. Ich habe meine Ernährung gefühlte hundert Mal umgestellt um reinere Haut zu bekommen und sogar einige spirituelle Rituale ausprobiert, von denen man sagt, dass sie wahre Wunder vollbringen könnten. Alles endete jedoch mit dem Resultat, dass ich im Nachhinein noch schlimmer aussah, als vorher. All das habe ich versucht, weil ich immer irgendwie hoffte, dass es irgendwann etwas bringen würde. Ich dachte… wenn wenigstens ich selbst mich irgendwann für hübsch halten würde, dann würde mir das reichen und diese ganzen, gehässigen Kommentare würden mich nicht weiter stören. Doch nun… Nun weiß ich, dass das nicht wirklich ich bin, aber das ändert gar nichts daran. Ganz im Gegenteil…“ Ein lautes Schluchzen entfuhr mir und verärgert musste ich feststellen, dass ich weinte.

„Bisher hatte ich wenigstens noch einen Grund zu hoffen. Ich hoffte darauf, dass sich meine ganze Situation irgendwann bessern würde, wenn ich wenigstens etwas hübscher werden würde, doch nun, da ich weiß, dass ich all die Jahre ganz für umsonst gelitten habe… Das macht es so unglaublich schwer… Denn nun weiß ich, dass es keinen Grund mehr für mich gibt, der mich hoffen lässt. Ich kann mein Aussehen nicht verändern, weil dieser Fluch es nicht zulässt. Ich kann nicht schön werden, was immer ich auch versuche… Es wird sich nie etwas ändern… Das alles wird mir jetzt erst so richtig klar…“ Die Stimme versagte mir und schluchzend presste ich mir die Hand auf den Mund. Wie erbärmlich ich doch eigentlich war… Ich war nichts weiter als ein kleines, schwaches Mädchen, dass sich jahrelang in der kindischen Hoffnung schwelgte, dass es bestimmt eines Tages besser werden würde, anstatt einfach mal den Schneid und die Selbstachtung zu entwickeln, um mich von den Menschen, die über mich urteilten, nicht runterziehen zu lassen. Ich badete lieber Ewigkeiten im Selbstmitleid, nur weil ich naiv genug war, um mich immer noch an den Wunsch nach Beachtung und Liebe zu klammern. Ich war so dumm… Und selbst jetzt, wo ich all dies erkannte, hatte ich nichts Besseres zu tun, als wie ein begossener Pudel auf dem Dach meiner Schule zu stehen, mich vor ein paar Jungs zu verstecken, die es genossen, Schwächere zu drangsalieren und mir die Augen aus dem Kopf zu heulen, weil ein idiotischer Dämon mich mit einem Fluch belegt hatte, an dem ich nun ohnehin nichts mehr ändern konnte.

 

Ich zuckte ängstlich zusammen, als mich plötzlich eine Hand im Gesicht berührte. Es war eine sanfte Berührung und aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, dass es Castiel war, der mir schon beinahe zärtlich über das Gesicht streichelte und dabei die dicken Tränen wegstrich, die mir aus den Augen traten. Meine Haut kribbelte leicht unter der Berührung seiner Finger und ich musste den Drang unterdrücken schaudernd die Augen zu schließen. In seinem Gesicht bildete sich eine merkwürdige Mischung aus Sanftmut und Reue, sodass ich ganz gefangen war, von dem sonderbaren Schauspiel in seinen Augen.

„Es tut mir leid“, flüsterte er und ich blinzelte leicht um mich von dem ungewohnten Gesichtsausdruck loszureißen und wieder auf seine Worte zu konzentrieren. Himmel, was war nur los mit mir?

„Ich wusste, dass Menschen sehr oberflächlich sein können, aber ich dachte, man würde sich nur nicht zu dir hingezogen fühlen, wenn ich dich  mit diesem Fluch belege. Ich habe nicht damit gerechnet, dass man dich deswegen so behandeln, dich derart verachten und schikaniere würde…“

Er hielt kurz inne und ich sah Wut und Hass in seinen Augen aufleuchten, jedoch schüttelte er einen Moment später plötzlich mit dem Kopf und die Emotionen verschwanden wieder aus seinem Blick. Seine Hand streichelte mir erneut zärtlich über die Wange und ich spürte, wie sich ein seltsames Chaos an Gefühlen in mir ausbreitete. Freude, Wut, Verständnis, Angst – all das traf mich mit der Heftigkeit eines Hurrikans und ich wusste nicht, ob ich bei ihm bleiben und ihm zuhören, oder einfach nur die Beine in die Hand nehmen und vor ihm weglaufen sollte.

„Ich habe nicht gewollt, dass du so leiden musst. Ich wollte nur deine Unschuld beschützen“, hauchte er zaghaft und seine leisen, fast schon liebevollen Worte sorgten dafür, dass mich ein wohliger Schauder überzog und eine angenehm, leicht kribbelnde Gänsehaut zurückließ. Doch ich wollte so nicht empfinden, ich wollte mich in seiner Gegenwart nicht einmal wohl fühlen. Ich wollte ihn hassen, weil er hassenswert war! Er tauchte ohne zu Fragen einfach in meinem Leben auf, belegte mich mit einem Fluch, nur um selbstgefällig meine Unschuld zu bewahren und zu allem Überfluss pochte er nach wie vor auf ein Versprechen, an das ich mich jedoch einfach nicht erinnern konnte. Er war arrogant, egoistisch und drängte sich immer mehr in mein Leben, ohne auch nur die geringste Rücksicht darauf zu nehmen, dass seine Anwesenheit alles nur noch schlimmer machte.

Doch wie er nun vor mir stand und mir mit einem reumütigem Blick entgegenblickte, wie konnte ich da noch weiterhin auf ihn böse sein? Es schien ihm ernsthaft leidzutun und war es denn wirklich seine Schuld, dass er die Menschen und ihre Art nicht weiter einzuschätzen wusste?

Plötzlich ließ er seine Hand wieder sinken und bedachte mich mit einem undefinierbaren Blick, als hätte meine Wange ihn plötzlich angefaucht. Enttäuscht ließ er die Schultern sinken und augenblicklich fragte ich mich, was ich nun falsch gemacht haben könnte, ehe er jedoch kapitulierend die Hände in die Luft warf und meinte: „Schön meinetwegen. Ich hatte eigentlich vor, damit bis zur Hochzeit zu warten, aber… wenn es dich wirklich so unglücklich macht, dann werde ich den Fluch hier und jetzt auflösen.“

Ich starrte ihn so ungläubig an, als hätte er sich vor meinen Augen in ein stepptanzendes Lama verwandelt, wobei ich diese Möglichkeit für noch wahrscheinlicher hielt, als dass ich gerade richtig gehört haben musste.

„Ist das dein ernst?“, fragte ich zitternd und spürte, wie unweigerlich Hoffnung in mir aufstieg. Ich betrachtete ihn genau, nahm jede seiner Bewegungen war und suchte nach einem Anzeichen in seinem Blick, nach irgendetwas, das mir verriet, dass er mich nur auf den Arm nahm.

Doch er blickte mir nur eindringlich entgegen und auch, wenn ihm diese Idee offensichtlich nicht sonderlich gefiel, so schien er es tatsächlich ernst zu meinen.

„Wenn du es wünscht“, bestätigte er langsam und nickte noch einmal bestärkend.

„Ja“, hauchte ich leise, unfähig einen ganzen Satz zu formulieren. Würde er mir nun tatsächlich meinen größten Wunsch erfüllen, mich von diesem Fluch befreien und mir somit die Chance geben, endlich einen Neuanfang zu wagen? Musste ich ihn nicht erst heiraten und auch sonst nichts weiter dafür tun? Oder hatte die Sache etwa doch einen Haken?

Doch noch ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, überbrückte er plötzlich den Abstand zwischen uns, packte meinen Hinterkopf, zog ihn zu sich und presste seinen Mund auf meinen. Meine Augen weiteten sich, als ich mir bewusst wurde, dass mir dieser Dämon gerade meinen ersten Kuss raubte. Unfähig mich zu bewegen, starrte ich auf seine geschlossenen Augenlider und ich schaffte es nicht einmal auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Mein Kopf war wie leergefegt und ein kribbelndes, wohlwollendes Gefühl durchzog meinen ganzen Körper. Es fühlte sich gut an, sich von ihm küssen zu lassen, obwohl eine kleine, leise Stimme in mir drinnen wusste, dass es abgrundtief falsch war. Doch wie konnte etwas so falsch sein, dass sich doch eigentlich so richtig anfühlte? Zu dem wohligen Gefühl gesellte sich nun jedoch auch ein leichter Schwindel, und hätte er mich nicht fest in seinen Armen gehalten, wäre ich wahrscheinlich zu Boden gegangen. Noch bevor ich gänzlich verstand, was gerade mit mir geschah, wurde meine Welt schwarz…

 

 


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Kommentare: 2
  • #1

    Lea (Dienstag, 16 August 2016 12:00)

    Hi
    Juhu, du hast die Geschichte angefangen. Und ich habe das 1. Kapitel noch verpasst. Naja, dafür konnte ich jetzt zwei lesen und die haben mir auf jeden Fall sehr gefallen. Er hat ihr den Wunsch jetzt echt erfüllt? Ohne eine Bedingung zu stellen? .....Er wird sie wohl trotzdem noch zu Frau machen wollen...aber... ach ich weiss auch nicht was ich denken soll...
    Auf jeden Fall ist diese Geschichte genauso gut wie deine zwei Vorherigen, die ich gelesen habe/am lesen/verfolgen bin.
    Ich bin schon so gespannt wies weiter geht und hoffe das nächste Kapitel kommt schon bald!?

    Liebe Grüsse
    deine Lea

  • #2

    Jasmin (Mittwoch, 04 Januar 2017 18:19)

    Hey,
    Wow wie schön der Text einfach ist. Deine Art zu schreiben gefällt mir richtig gut. Man kann sich richtig gut Vorstellen wie Sie sich fühlt und ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten. ( vielleicht bin ich ein bisschen zu empathisch)
    Hammer mir gefällt die Geschichte richtig gut und ich freue mich darauf hoffentlich bald mehr zu lesen. *_*

    Ganz ganz ganz liebe Grüße
    Jasmin