Okay, keine Panik! Nur keine Panik.

Irgendwie würde ich hier schon wieder raus kommen, ganz bestimmt. Es war ja nicht so, als wäre ich in diesem grässlichen, engen Raum gefangen, hoffnungslos, für immer… oder?

Ich atmete einmal tief durch und versuchte ruhig zu werden, damit ich die Lage ordentlich einschätzen konnte. Meine Rippen wurden unangenehm eingequetscht und das Atmen fiel mir zunehmend schwerer. Obendrein klemmte mein rechter Arm hinter meinem Rücken fest und sämtliches Zerren und Winden machte es nur noch schlimmer. Eines musste ich zugeben: Die Macher dieser schrecklichen, superelastischen Shapewear-Body’s wussten, was sie taten. Ich war im Moment wahrscheinlich besser verschnürt als ein FedEx-Paket.

Mein rechter Arm stand in einem ungesund aussehenden Winkel ab und wenn ich versuchte, die Arme auszustrecken, schnitt mir dieser elende Stoff in die Haut. Ich steckte fest, es gab einfach kein Entkommen.

Ein Blick in den Spiegel verriet mir, dass ich im Moment genauso aussah, wie ich mich fühlte. Schwitzend, mit hochrotem Kopf und absolut unglücklich. Wirre Schnüre verliefen kreuz und quer über meine Arme, doch ich konnte nicht einmal ausmachen, welches davon ein Träger sein könnte und was an den Rücken gehörte. Himmel, wieso hatte ich mich auch in die 36 zwängen müssen?

‚Macht eine gute Figur.‘

‚Diese Unterwäsche verleiht ihnen unglaublich traumhafte Kurven.‘

‚Bauch-weg-Body – Verschafft Ihnen direkt 2 Kleidergrößen kleiner.‘

Ich sollte diese verfluchte Werbung vielleicht nicht immer so wörtlich nehmen.

 

„Kommen Sie da drinnen zurecht?“

Erschrocken zuckte ich zusammen, als ich die schrille Stimme der Verkäuferin vor der Kabine hörte, die mich nun mittlerweile schon zum dritten Mal fragte, ob ich zurechtkäme. Jedes Mal hatte ich sie bisher mit einem „Ja, ja, alles super“, wieder weggeschickt, aber ehrlich gesagt, wusste ich allmählich nicht mehr weiter. Ich rang nun bereits seit guten zehn Minuten mit diesem furchtbaren Body und kam weder vollends rein, noch raus. Ich würde diese Frau nicht ewig hinhalten können…

„Diese Body’s sind echt unglaublich, nicht wahr?“, hörte ich sie begeistert sagen, „Im Vergleich zu gewöhnlichen Shapewear-Bodys hat dieses Modell einen wesentlich höheren Elastan-Anteil, was mindestens doppelt so viel Halt bietet. Man verliert am Ende bestimmt fast 2 Kleidergrößen, finden Sie nicht?“

Nicht wirklich. Das Einzige, was ich verlor, war mein halbes Lungenvolumen.

„Finden Sie sich denn mit allem zurecht? Der Schnitt ist etwas gewöhnungsbedürftig, weshalb viele Kundinnen beim ersten Trageversuch Hilfe beim Anlegen benötigen. Soll ich in die Kabine kommen und Ihnen helfen?“

In die Kabine kommen??? Nie im Leben würde ich zulassen, dass diese großwüchsige, durchtrainierte und obendrein gertenschlanke Imitation eines brasilianischen Supermodels, die offenbar noch nie etwas von der Erfindung von Kinderschokolade und Gummibärchen gehört hatte, hier hereinkommen und mich in der Aufmachung eines verschnürten, gestrandeten Wales vorfinden würde.

„Nein, danke, es geht schon“, antwortete ich und versuchte dabei so ruhig wie möglich zu klingen. Ob sie meinen leicht hysterischen Unterton bemerkt hatte?

„Okay, sollten Sie doch noch Hilfe beim An- oder auch Ausziehen benötigen, dann rufen Sie einfach nach mir.“

Ich hörte, wie sich ihre Schritte langsam wieder von mir entfernten und begann, erneut zu versuchen an den Trägern herumzunästeln. Ich konnte es mir schon beinahe bildlich vorstellen, wie ich mich am Verkaufstresen festhalten musste, während diese dürre Schwarzhaarige wild schnaufend und schwitzend versuchte, mich mit aller Kraft aus diesem Stofffetzen zu befreien und insgeheim denken würde: Was musste sich diese fette Wachtel auch ausgerechnet in Größe 36 reinzwängen?

Nein, diese Blöße würde ich mir freiwillig ganz bestimmt nicht geben.

 

Ich biss die Zähne zusammen und zog einmal mit aller Kraft an den Schnüren, bis ich es letztendlich sogar schaffte, 2 davon auf meine Schulter zu befördern. Endlich, meine Arme waren frei! Ich musste mir ein erleichtertes Seufzen verkneifen, als diese leicht zu kribbeln begannen, da sie nach einer gefühlten Ewigkeit wieder durchblutet wurden.

Wozu musste ich mich überhaupt in so ein verfluchtes Teil reinzwängen? Das war doch der reinste Selbstmord!

Doch wenn ich vorhatte mir das Zertifikat für die freiwillige Arbeit bei der Unizeitung zu verdienen, dann blieb mir keine andere Wahl, als das Ganze nun durchzuziehen. Jedoch nahm ich mir fest vor, Peggy irgendwann gehörig dafür büßen zu lassen!

Im Normalfall stellte es wahrscheinlich ein riesiges Privileg dar, als einfache Journalismus-Studentin einen der wenigen, begehrten Plätze in der Unizeitung ergattern zu können. Allerdings hatte man in meinem Fall diese Rechnung ohne unseren hauseigenen Schlagzeilenteufel gemacht.

Peggy Ahler galt als der menschliche Inbegriff von Sensationslust und Schreibtalent, sodass sie sich nach nur kurzer Zeit an der Uni bereits zum Chefredakteur unserer Zeitung gemausert hatte. Sie war zweifelsohne mehr als nur ein bisschen begnadet in dem, was sie tat. Die reinste Vorzeigejournalistin…

Das Bedauerliche daran war jedoch, dass sie sich ihres Talentes deutlich bewusst war und aufgrund ihres obendrein stark ausgeprägten Drangs zum Perfektionismus gab sie nur selten das Ruder aus der Hand.

 

Seit sie also selbst den Vorsitz in der Redaktion innehatte, schusterte sie sich vehement die besten Arbeiten zu, bestimmte die Themen der nächsten Ausgabe, übernahm die größten und interessantesten Recherchen und gab dem Rest von uns nur das zu recherchieren, was ihr selbst als lästig erschien.

Da läuft so ein neuer Science-Fiction-Schinken im Kino? – Mila, mach doch mal eine Kritik dazu…

Die Pharmazie-Studenten haben vor kurzem so komische Eiscreme hergestellt, die den Blutzuckerspiegel senken, dafür aber unglaublichen Mundgeruch machen soll? – Mila, teste das doch mal…

Es war wahrlich frustrierend…

An für sich hätte ich nicht einmal ein Problem damit gehabt, nicht über interessante Themen, wie Politik, Religion oder aktuelle Ereignisse berichten zu dürfen, wenn ich wenigstens das, worüber ich letztendlich recherchierte, auch selbst schreiben könnte. Schließlich war es das, was ich liebte, was ich unbedingt machen wollte und genau genommen auch der einzige Grund, weshalb ich Peggys tyrannische Machenschaften klaglos über mich ergehen ließ.

Doch letztendlich wurden meine Artikel nie so veröffentlicht, wie ich sie geschrieben hatte, ganz gleich, wie viel Mühe ich mir damit gab. Peggy wollte einfach nichts dem Zufall überlassen, weshalb selbst die winzigsten Artikel von ihr bis aufs kleinste Detail kontrolliert und überarbeitet wurden. Dass sie im Endeffekt uns allen damit vor den Kopf stieß, war ihr gleichgültig. Sie brauchte sich in ihren Augen schließlich nicht vor uns zu rechtfertigen.

 

Ich stieß ein frustriertes Seufzen aus, denn während ich nun in diesem Unterwäscheladen stand, eingeschnürt wie ein schlecht verpacktes Weihnachtsgeschenk und für den Modeteil unserer Zeitung herauszufinden versuchte, was dieses Shape-Wear-Grauen wirklich taugte, wusste ich bereits, wie die nächste Schlagzeile aussehen würde:

Top oder Flop – Shape-Wear und ihre Geheimnisse

Und direkt unter der fetten Schlagzeile würde kleingedruckt mein Name stehen: „von Mila May“, während mir bereits jetzt klar war, dass der abgedruckte Artikel nicht mehr allzu viel mit dem meinen gemeinsam haben würde…

Manchmal fragte ich mich, warum ich das eigentlich mit mir machen ließ. Es zwang mich schließlich niemand dazu für diese herrische Imitation einer ‚Miranda Priestly‘ aus Der Teufel trägt Prada zu arbeiten. Doch ich musste durchhalten, ich hatte bisher bereits 3 Monate bei der Unizeitung durchgestanden und wenn ich noch einmal weitere 3 Monate hinter mich brachte, würde ich mir endlich mein Zertifikat verdienen. Und ich war mir sicher, wenn ich das erst einmal in der Tasche hatte, wäre es ein Leichtes eine bezahlte Praktikantenstelle bei einem der größeren Zeitungsredaktionen der Stadt zu ergattern. Ich musste jetzt nur durchhalten…

 

Mit einem tiefen Atemzug, soweit es dieses elende Stoffteil zuließ, versuchte ich mir Mut zu machen und mich anschließend wieder vollkommen auf meinen Auftrag zu konzentrieren.

Das Ganze sollte sich als gar nicht so schwierig gestalten, schließlich war es nahezu unmöglich ein derart mörderisches Gespann allzu lange zu ignorieren. In einer fließenden Bewegung wischte ich mir die Schweißperlen von der Stirn, ehe ich erneut versuchte mit ruckartigen Bewegungen das schwarze Ungetüm von meinem Körper zu reißen. 

Ich konnte nach wie vor nicht wirklich verstehen, wie es Frauen gab, die sich freiwillig tagtäglich dieser Folter aussetzten und solche Teile trugen, obwohl ich mir insgeheim deutlich bewusst war, dass ich wahrscheinlich zu genau diesen Frauen gehören sollte.

Denn wer im Zeitalter von Fitness- und Ernährungswahn nicht als nächster Kandidat für die Stelle des menschlichen Pottwals in Frage kommen wollte, nur weil eine sportliche Betätigung seinerseits wahrscheinlich die nächste Terrorwarnung auslösen würde, und er den unwiderstehlichen Liebesschwüren dieser verfluchten Süßigkeiten einfach nicht standhalten konnte, der war scheinbar dazu verdammt, anderweitig leiden zu müssen. Warum konnte man auch nicht einfach Schokolade mit dem widerlichen Geschmack von Brokkoli herstellen? Niemand würde sich mehr danach sehnen. Es könnte doch so einfach sein…

„Entschuldigung, aber ist alles in Ordnung bei Ihnen? Sie sind schon ziemlich lange da drinnen, brauchen Sie wirklich keine Hilfe?“ Ich zuckte erschrocken zusammen, als ich erneut die schrille Stimme der Verkäuferin durch die Kabinentür hallen hörte. In ihrer Stimme lag ein misstrauischer Unterton, weil ich ihrer Meinung nach scheinbar länger zum Umziehen brauchte, als nötig. Wahrscheinlich verdächtigte sie mich bereits diverser Verbrechen, die man in einer kleinen Umkleide begehen könnte. Ob sie den Ladendetektiv bereits auf mich angesetzt hatte?

Leichte Ungeduld erfasste mich und ich begann, etwas heftiger an dem schwarzen Stoff zu zerren.

Ich öffnete den Mund und wollte ihr gerade erneut versichern, dass alles okay wäre, als jedoch ein reißendes Geräusch die Stille durchzog und mich abrupt innehalten ließ. Oh nein, oh nein, oh nein, das durfte einfach nicht wahr sein!

„I-Ich..“, stotterte ich leise und betrachtete mit entsetztem Blick die aufgeplatzte Naht an meiner rechten Seite. „Ich glaube, ich habe mich soeben entschieden, diesen Body zu kaufen.“

Den erfreuten Zuspruch der Verkäuferin nahm ich kaum noch wahr. Meine ganze Aufmerksamkeit galt dem kleinen, weißen Preisschildchen an meiner rechten Hüfte und mir traten beinahe die Augen aus dem Kopf, als mir allmählich bewusst wurde, dass mir dieses verfluchte Teil fast eine halbe Monatsmiete kosten würde.

Womit hatte ich das nur verdient?

 

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