Sakura hatte eine lange Nacht hinter sich. Sie fühlte sich müde, erschöpft und ausgepowert. Nachdem sie zurück zu ihrem Zimmer gerannt war, beschloss sie, dass es keine gute Idee war, so schnell zu Hinata zurück zu gehen. Sie würde Fragen stellen, wieso sie schon so früh zurück wäre und Sakura fühlte sich nicht in der Lage von den Geschehnissen zu berichten. Hinata würde es nicht verstehen. Nein, sie musste dieses Erlebnis für sich behalten. 

Nach einer gefühlten Ewigkeit betrat sie endlich das Zimmer, jedoch erst nachdem sie sich mit dem Ärmel, so gut es eben ging, übers Gesicht gewischt hatte. Sie hoffte somit alle Tränenspuren beseitigt zu haben. Doch als sie ins Zimmer kam und Hinata ihr einen verwunderten Blick zuwarf, wusste sie, dass sie nicht lange genug gewartet hatte.

„Sakura, warum bist du schon wieder da und… hast du etwa geweint?“, Hinata war sofort aufgestanden und kam auf sie zu. Sakura versuchte sich ein Lächeln abzuringen, jedoch glich es mehr einer verzerrten Fratze.

„Er… Er ist nicht gekommen“, log sie und zuckte kurz mit den Schultern. Hinata nahm sie in den Arm. Als Sakura die Hände und Nähe ihrer Freundin spürte, die ihr tröstend über Kopf und Rücken strich, war es um ihre Selbstbeherrschung geschehen. Die Tränen rannen ihr nun ungehindert übers Gesicht. Alle Ereignisse der letzten Tage stürzten auf sie herein und auch wenn sie Hinata nicht die Wahrheit sagen konnte, so tat es gut in ihren Armen Trost zu finden. 

„Ach Liebes, das tut mir so leid. Und ich dumme Gans hab ihn dir auch noch gut geredet. Hätte ich doch nur den Mund gehalten. Aber hör mal, deswegen brauchst du doch nicht so bitterlich zu weinen. Ich weiß, dass du enttäuscht bist, aber es gibt auch noch andere Männer. Bessere Männer“, betonte sie und versuchte ihrer Freundin zuzulächeln, doch diese klammerte sich an sie und drückte ihren Kopf in ihre Halsbeuge. Hinata akzeptierte das und beschloss sie einfach still zu trösten. Und so weinte sich Sakura in ihren Armen in den Schlaf. 

 

Als der nächste Tag anbrach, graulte es ihr davor Sasuke vielleicht wiedersehen zu müssen. In letzter Zeit ist kein Tag vergangen, an dem er ihr nicht auflauerte und ihr bangte vor dem heutigen Tag. Aber es sollte anders kommen.

Nach dem Mittagessen kam Mikoto zu ihr und Hinata und informierte sie darüber, dass Sasuke die nächste Zeit nicht da sein würde. Er war am Vormittag nach seiner Besprechung beim Shogun aufgebrochen um nach Osaka zum Sanada-maru zu reisen, wo die Tokugawa-Gruppen eine Belagerung der Vorburg starten sollten. Sasuke sollte die Truppen anführen und während Mikotos Erzählungen bemerkte Sakura, wie stolz sie auf ihren Sohn war. Sie selbst war mehr als froh darüber, dass Sasuke nun weg sein und sie vorerst ihre Ruhe haben würde.  

 

Am Nachmittag saß Sakura in ihrem Zimmer und versuchte sich zu entspannen. Hinata war in die Stadt aufgebrochen und wollte etwas erledigen, so dass Sakura in ihrer freien Zeit alleine war. Zeitweise überlegte sie, ob sie nicht auch in die Stadt gehen und Sai suchen sollte. Aber nur beim bloßen Gedanken an den jungen Schmied musste sie sofort an Sasuke denken und sie fühlte die Angst wieder in sich aufsteigen. Nein sie würde sich von Sai fernhalten, so wie er es wollte. Dennoch rannen ihr wieder die Tränen über die  Wangen. Sie fühlte sich so erbärmlich und bedeckte ihr Gesicht mit dem Ärmel. Plötzlich spürte Sakura eine Hand auf ihrem Kopf und sie erschrak. Als sie sich umdrehte, erwartete sie in Hinatas Gesicht zu blicken, doch vor ihr stand nicht Hinata. Es war Ino, die sich leicht nach vorne gebeugt und ihr die Hand auf den Kopf gelegt hatte. 

„Nicht der Schmied ist der Grund, weswegen du weinst“, meinte Ino und Sakura sah ruckartig nach oben. Woher wusste sie das mit Sai? Was konnte sie wissen? Was hatte sie gesehen? Doch Sakura war sich sicher, dass Ino nichts wusste. Es war eine Vermutung, mehr nicht. Doch als sie ihr in die Augen sah, sagte ihr irgendetwas, dass sie Ino nicht anlügen wollte, dass sie sie nicht anlügen musste. Vorsichtig nickte sie und Ino lächelte verstehend. Trotzdem wandte sie sich zum Gehen und meinte: „Du musst mir nicht sagen, was wirklich passiert ist. Ich werde dich zu nichts zwingen, keine Sorge.“ Damit wollte sie gehen, doch Sakura sprang auf.

„Ino warte bitte.“ Die Blondine blieb stehen, drehte sich zu ihr um und sah sie fragend an.

„Was ist?“

„Ich… Hinata hat mir von deiner Vergangenheit erzählt.“ Als Sakura diesen Satz aussprach, veränderte sich etwas in Inos Augen. Sie weiteten sich erst schockiert und danach wurde der Ausdruck in ihnen leer.

„Achso, na dann weißt du ja jetzt Bescheid. Halt dich von mir fern, hörst du? Denk nur nicht, du wärst besser als ich!“ Ino sah ihr trotzig ins Gesicht und Sakura verstand plötzlich. Ino war ein Mädchen, einfach nur ein Mädchen. Keine Verbrecherin, keine Verräterin. Sie war weder eingebildet und hochnäsig noch hielt sie sich für etwas Besseres. Sie war ein einfaches Mädchen, das einen Traum hatte und für diesen einen kleinen Fehler machte, für den sie sich schämte und der ihr alles nahm: erst ihre Würde, dann ihre Freunde und zum Schluss sogar ihre Freiheit. Ihre eiskalte Mauer war eine einfache Schutzvorrichtung, damit sie niemanden an sich ranlassen würde und nicht noch mehr verletzt werden konnte. Doch Sakura hatte einen kurzen Blick hinter die Mauer erhaschen können und sah das verletzliche Mädchen, das sich nichts mehr wünschte, als wieder zu irgendetwas zu gehören. Für einen kurzen Moment hatte sie geglaubt, Sakura könnte ihre Freundin werden, hatte sie an sich herangelassen und nun befürchtete sie, es würde alles wieder von vorne beginnen.

Ino wandte sich wieder zur Tür und wollte gerade davon gehen, als Sakura von hinten ihre Arme um sie schlang und sie umarmte.

„Ich verurteile dich nicht, Ino, das haben schon zu viele getan. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass ich dich sogar verstehe“, Sakura lächelte sanft, „Es tut mir Leid, wie die Leute sich dir gegenüber verhalten, aber ich bin nicht so. Ich möchte gerne deine Freundin sein, wenn du es erlaubst.“ An diesem Tag hatte sie Inos Mauer schon zum zweiten Mal bröckeln gesehen. Tränen rannen ihr nun übers Gesicht und ihre Beine wollten sie nicht mehr halten. Sie sackte zusammen und Sakura ging mit ihr zu Boden. „Ja“, schluchzte sie, „Bitte sei meine Freundin.“ Und so weinten die beiden Freundinnen Arm in Arm. 

 

Am Abend saß Sakura noch lange vorm Fenster und sah nach draußen. Es hatte wieder zu schneien begonnen und sie versank in Melancholie. Es sah schön aus, wie die kleinen, weißen Flocken durch die Luft flogen und sich als großer, weißer Teppich auf die Wiesen legten. Hinata lag schon auf ihrem Futon, aber Sakura wusste, dass sie noch wach war, denn sie summte leise vor sich hin. Als die Tür geöffnet wurde und Ino hereinkam, lächelte Sakura ihr zu und wünschte ihr einen guten Abend. Sie konnte jedoch nicht verstehen, weshalb Ino sie geschockt ansah. Wahrscheinlich nahm sie an, dass Sakura vorhatte die Freundschaft zu verheimlichen, aber dem war nicht so. Sakura war es auch egal, dass Hinata aufgehört hatte zu summen und ihr böse Blicke zuwarf. Als Ino ihren Futon ausgebreitet hatte, zog Sakura ihren daneben und legte sich hin. Sie wisperte nur noch eine gute Nacht, ehe sie auch schon eingeschlafen war.

 

Die folgenden zwei Wochen verliefen ruhig. Das Band zwischen Ino und Sakura wurde immer fester und sie trafen sich nachmittags zu ihrer freien Zeit im Zimmer und redeten viel. Während der Arbeit wurde Sakura von Hinata mit bösen Blicken bedacht und auch sonst behandelte sie sie wie Luft. Eigentlich wollte Sakura nicht, dass sie sich verraten fühlte, nur weil sie mit Ino Freundschaft geschlossen hatte, aber die Blondine war kein schlechter Mensch, auch wenn Hinata anderes darüber dachte.  

Sakura erholte sich wieder und die Abwesenheit Sasukes tat ihr gut. Sie musste sich nicht mehr fürchten, dass er ihr auflauern könnte und auch die vergangenen Erlebnisse hatte sie gut verarbeitet. Das verdankte sie mitunter Ino, da sie in ihr eine gute Zuhörerin gefunden hatte. Sie strafte sie nicht mit verachtenden Blicken, sondern sprach ihr Mut zu und erklärte ihr, dass es nicht ihre Schuld war.  

Es war ein kalter, stürmischer Winterabend als Sakura von merkwürdigen Geräuschen aus dem Schlaf gerissen wurde. Sie war zwar mittlerweile an die Lautstärke des Nachtlebens gewöhnt, aber heute war etwas anders. Es hörte sich an, als klopfte, nein, als schlug jemand mit ganzer Kraft gegen das Tor. Sakura, Hinata und Ino erhoben sich und begaben sich in den Garten, nur um zu sehen, dass das Tor unnatürlich stark vibrierte. Die Mädchen hielten ängstlich die Luft an, als ein lauter Ruf die Nacht durchbrach: „So macht doch auf!“, rief eine männliche, unbekannte Stimme und schlug wieder auf das Tor ein. Sakura wollte es öffnen, als sich Hinatas Hand ängstlich auf ihre Schulter legte.

„Mach es nicht, Sakura“, flüsterte sie, „Vielleicht ist es ein Bandit oder ein Mörder.“ 

Doch als die Stimme einen verzweifelten Unterton annahm, glaubte Sakura nicht mehr daran, dass es sich um einen Verbrecher handeln könnte.

„So helft mir doch bitte.“

„Hört ihr? Er braucht unsere Hilfe.“ Schneller als Hinata oder Ino hätten eingreifen können, hatte Sakura das Tor geöffnet und sah den jungen Mann vor der Tür an. Ihre Augen weiteten sich, Ino schlug sich schockiert die Hände vor den Mund und Hinata rannte ins Haus und wollte Mikoto holen. Es war ein blonder Junge, der einen anderen Mann stützte, der sich scheinbar nicht alleine halten konnte. Der Schnee auf dem Boden unter ihnen war von Blut getränkt. Sakura und Ino schritten auf den Mann zu und nahmen ihm den Verwundeten ab. Bei genauem Hinsehen bemerkte Sakura, dass es sich bei dem Mann um Sasuke handelte und sie hätte ihn beinahe fallen gelassen. Doch in letzter Sekunde beherrschte sie sich und brachte ihn zusammen mit Ino ins Haus. Es dauerte nicht lange, ehe Mikoto und Fugaku herbeieilten und den blonden Mann baten ihnen zu berichten, was passiert war. 

„Toyotomis Männer am Sanada-maru waren vorbereitet und sie standen unter dem Kommando von Sanada Yukimura. Sie konnten unsere Belagerungslinien drei Mal durchbrechen und während eines Gegenangriffes wurde Sasuke schwer verwundet. Er wurde zwar im Lazarett behandelt, aber da Toyotomis Leute vorrücken konnten, mussten wir vorerst den Rückzug antreten. Sasuke sollte nach Hause gebracht werden, doch auf dem Weg hier her haben sich seine Wunden wieder geöffnet und durch die Kälte ist er ziemlich unterkühlt. Er muss warm gehalten und seine Wunden neu verbunden werden. Der Arzt kann jedoch diese Nacht nicht kommen, da er nicht in der Stadt ist. Es gibt noch einen Arzt in der benachbarten Stadt, aber er wird bei diesem Wetter keine Chance haben herzukommen. Tut mir leid, aber das ist alles, was ich für Sie tun kann.“ Der junge Mann verbeugte sich leicht und ging davon. 

 

Mikoto und Fugaku beschlossen, dass sie aufbrechen und den Arzt aus der benachbarten Stadt holen würden. Während ihrer Abwesenheit sollten sich die Mädchen um den verletzten Sasuke kümmern. Ino sollte alle Decke im Haus zusammensuchen und dafür sorgen, dass Sasuke es warm hatte. Hinata sollte eine warme Suppe kochen, damit er, wenn er aufwacht, etwas Warmes zur Stärkung zu sich nehmen konnte und Sakura sollte seine Verbände wechseln. Damit verschwanden sie und jeder ging an seine Aufgaben. 

Sakura streifte ihm die dicke Decke ab und befreite seinen Oberkörper vom Stoff des blutgetränkten Kosode. Die Röte stieg ihr ins Gesicht, da sie einen Mann noch nie oberkörperfrei gesehen hatte. Aber sie verdrängte dieses Bild und konzentrierte sich vollständig auf das Wechseln der Verbände. Ein länglicher Schnitt erstreckte sich auf der rechten Seite seines Bauches. Sie bemerkte zwar, dass die Wunde bereits genäht wurde, aber sie war tatsächlich wieder aufgegangen. Ein neuer Verband könnte die Blutung vorerst verlangsamen oder sie vielleicht kurzzeitig stoppen, aber würde die Wunde nicht bald wieder genäht werden, würde er wahrscheinlich verbluten. Als sie fertig damit war, seine Wunde zu versorgen, legte sie die Decken, die Ino gebracht hatte, auf ihn um ihn warm zu halten. Im Anschluss erhob sie sich und wollte zurück in ihr Zimmer, aber eine Hand schloss sich um ihr Handgelenk. Ihr Atem stockte und sie sah nach unten in sein schmerzverzerrtes Gesicht. Die Angst, die die letzten zwei Wochen wie verflogen war, kehrte nun wieder und schnürte ihr die Kehle zu. Sie glaubte nicht, dass er sie in diesem Zustand verfolgen könnte, sollte sie wegrennen.

Er keuchte leise und öffnete vorsichtig die Augen. Sein Blick hatte sich verändert. Sie kannte seinen wütenden und seinen durchdringlichen Blick, aber sein jetziger Blick war weich und sanft und er beunruhigte sie mehr denn je.  

„Ich bitte dich, bleib hier. Ich verspreche, ich werde nichts tun, also bleib einfach bei mir, ja?“ Seine Stimme klang schwer und es strengte ihn sichtlich an zu sprechen. Es war nicht die Angst und auch nicht das Mitgefühl, sondern ein tieferes Bedürfnis, das sie nicht zu benennen wusste, was sie zum Bleiben bewegte. Sie kniete sich neben ihn und er umfasste ihre Hand. 

Auch wenn er sie verängstigte und versuchte sie zu beherrschen, so fühlte es sich zum ersten Mal richtig an, in seiner Nähe zu sein und seine Hand zu halten. Nun konnte sie nur hoffen, dass Mikoto und Fugaku rechtzeitig mit einem Arzt zurückkommen würden.

 


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